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21.05.2025 MUTEC

Chemnitz 2025: Aufbruch, Erbe und europäische Visionen

Vier Monate nach dem Start der Kulturhauptstadt Chemnitz zieht Kulturbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky eine erste positive Bilanz. Volle Veranstaltungen, wachsendes Selbstbewusstsein und große Erwartungen an die Zukunft bringen eine neue Dynamik nach Chemnitz.

Wir befinden uns im vierten Monat der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Wie ist die erste Zwischenbilanz?

Wunderbar! Die Eröffnung im Januar mit 80.000 Besucherinnen und Besuchern war ein riesiger Erfolg – besonders für eine Open-Air-Veranstaltung im Winter. Seitdem sehen wir in allen Bereichen wachsenden Zulauf: Stadtführungen sind ausgebucht, Hotellerie und Gastronomie zufrieden, ebenso Museen – und dass in den sonst eher ruhigen Monaten.

Das freut mich. 2020, als der Titel der Kulturhauptstadt verliehen wurde, war mein Eindruck, dass sich die Chemnitzer:innen, die ich kenne, wahnsinnig gefreut haben. Können Sie das so bestätigen, was hat das in der Stadt ausgelöst, wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen?

An diesem Tag war ich in Berlin und habe am Monitor die Übertragung verfolgt. Ich habe die ganzen Chemnitzer Gesichter aus dem Rathaus und der Szene gesehen und wie sie alle aufsprangen, die Hände hochrissen und jubelten. Wenn ich das erzähle, bekomme ich heute noch Gänsehaut.

Die große Freude rührte sicher auch daher, dass viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer das Jahr 2018 als besonders schrecklich wahrnahmen. Welche Rolle spielt das Jahr in der Kulturhauptstadt-Bewerbung und in der Ausgestaltung des Programms?

2018 war furchtbar, das kann man nicht beschönigen. Die rechte Szene hat mobilisiert, bundesweit wurde zu Aufmärschen in Chemnitz aufgerufen Das Jahr 2018 hat dann in der Bewerbung für die Kulturhauptstadt eine aktive Rolle gespielt. Unser Programm setzt heute auf die Beteiligung der Bürgergesellschaft und eine Aktivierung der Chemnitzerinnen und Chemnitzer. Heute geht es um gesellschaftliche Verantwortung, Selbstwirksamkeit, Transformation und einer Selbstwahrnehmung, um ein neues Bild der Stadt.

Wird das so angenommen?

Ja, die Veranstaltungen sind voll. Programme wie die Europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie zeigen: Die Menschen nehmen teil. Das Motto der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 „C the Unseen“ tut der Stadt gut – es geht darum, gesehen zu werden, aber auch, sich selbst neu zu sehen.

Welche Veränderungen erwarten Sie über das Kulturhauptstadtjahr 2025 hinaus?

Wir wollen bleibende Strukturen schaffen. Die Hartmann-Fabrik wurde zum Besucherzentrum, das ehemalige Straßenbahndepot ist heute ein Garagen-Campus. Dazu kommt das neue Karl Schmidt-Rottluff-Haus im Elternhaus des Künstlers. Karl Schmidt wurde 1884 in Rottluff - heute ein Stadtteil von Chemnitz - geboren. Als Mitbegründer der Künstlergruppe Brücke ist er ein ganz maßgeblicher Vertreter des Expressionismus in Deutschland. Die im Kulturhauptstadtjahr etablierten Orte sollen zusammen mit den fest in der Kulturlandschaft verankerten Einrichtungen auch den Kulturtourismus langfristig stärken.

Blick vom Bahnhof Richtung Opernhaus und Petrikirche

Auf der Leipziger Buchmesse wurde neben Chemnitz auch die grenzüberschreitende Europäische Kulturhauptstadt Nova Gorica in Slowenien mit Gorizia in Italien vorgestellt. In Nova Gorica sei das kulturelle Leben nach dem Zerfall Jugoslawiens weitgehend zum Stillstand gekommen, während es in Chemnitz nach der Wende aufblühte – so die These. Wie sehen Sie das?

Ich würde die These nicht uneingeschränkt gelten lassen wollen – kulturell war in Chemnitz auch zu DDR-Zeiten einiges los. Die Künstlergruppe Clara Mosch etwa arbeitete unabhängig vom sozialistischen Realismus und wurde überregional bekannt. Oder Hartwig Albiro, der ab 1971 das Schauspielhaus prägte und mit Größen wie Frank Castorf, Ulrich Mühe oder Corinna Harfouch arbeitete. Nach der Wende kam dann ein starker Aufschwung freier, unabhängiger Kulturschaffender hinzu.

Welche Maßnahmen machen Chemnitz heute als europäische Kulturhauptstadt aus?

Viele Projekte sind europäisch ausgerichtet. Etwa die Ausstellung „Tales of Transformation“ im Industriemuseum, die eine gemeinsame industrielle Entwicklung europäischer Städte zeigt. Sie wurde mit Partnern aus Manchester, Gabrowo, Łódź, Mulhouse und Tampere konzipiert. Die große Schau „European Realities“ im Museum Gunzenhauser, ein Haus der Kunstsammlungen Chemnitz, vereint Werke realistischer Kunst aus 22 europäischen Ländern – ein beeindruckender Querschnitt durch Europas Kunstgeschichte der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ab August 2025 folgt eine Ausstellung zu Edvard Munch unter dem Titel „Angst“. Ausgangspunkt ist sein Bild Der Schrei, das gesellschaftliche Fragen unserer Zeit thematisiert – weit über die Kunstgeschichte hinaus.

Was muss sich darunter vorgestellt werden?

Die Ausstellung verdeutlicht die immense Aktualität von „Angst“ und die Notwendigkeit diesen Tabu-Thema anzusprechen. Kunst, Musik, Tanz sind Möglichkeiten zur persönlichen Auseinandersetzung mit Angst. Der Pavillon der Angst wird als mobiler Begegnungsraum vor und während der Ausstellung im Chemnitzer Stadtraum die bewusste Auseinandersetzung mit diesem menschlichen wie auch diffusen und ambivalenten Grundgefühl anregen.

Welche weiteren Kooperationen mit internationalen Partnern haben sich in der Vorbereitung dieses Jahres entwickelt?

Die Vernetzung mit anderen europäischen Kulturhauptstädten ist sehr wertvoll. Das Programm der Europäischen Kulturhauptstädte wird dieses Jahr 40 Jahre alt – im April waren Vertreterinnen und Vertreter aus rund 60 bisherigen und künftigen Kulturhauptstädten hier zu Gast und verabschiedeten das White Paper Chemnitz. Ein Manifest mit 40 konkreten Vorschlägen zur Neugestaltung des Programms Kulturhauptstädte Europas. Die Arbeitsergebnisse werden jetzt in Brüssel vorgestellt. Die Gemeinschaft der Europäischen Kulturhauptstadt ist ein großer Gewinn.

Aber auch in Chemnitz lebende Menschen tragen zur Internationalität bei. Hier lebt beispielsweise eine große ukrainische Gemeinde, entsprechend kamen auch viele Geflüchtete hier an – mehr als in Leipzig oder Dresden. Viele engagieren sich in Projekten der Kulturhauptstadt, etwa über einen Chor. Alle, die in Chemnitz leben, sollen mitgestalten – das gilt natürlich auch für die Ukrainerinnen und Ukrainer.

Was mir vor allem im Programm ins Auge sprang, waren die Programmpunkte zu den #3000 Garagen. Warum Garagen?

In Chemnitz gibt es um die 30.000 Garagen, die das Stadtbild mitprägen. Ihr sozialer Stellenwert ist hoch, denn sie wurden zu DDR-Zeiten in Eigeninitiative und in Gemeinschaft errichtet. Noch heute sind sie kreative Biotope, soziale Orte und Archive. Diese Garagen sind typisch für eine ostdeutsche Stadt und haben einen Funktionswandel durchlaufen. Heute finden dort Garagenhof-Konzerte statt auch werden Ausstellungen gezeigt. Die Garagenhöfe als bereits existierende, sozio-kulturelle Orte wurden so für das Kulturhauptstadt-Jahr aktiviert. Die Fotografin Maria Sturm hat darüber hinaus verschiedene Garagenbesitzerinnen und Garagenbesitzer porträtiert. Die Fotografien tauchen prominent in den Schaufenstern von Geschäften und Bankfilialen im Stadtbild auf. Somit rücken sonst ungesehene Macher in das Rampenlicht.. t. Da passt das Motto „C The Unseen“ wieder gut.

Der Turm - zu DDR-Zeiten das Hotel "Interhotel Kongress"

Einen Schritt weiter gegangen – und die historischen Fakten etwas gerafft dargestellt – könnte ja behauptet werden, ohne Chemnitz gar keine Leipziger Messe. Ich spiele da auf die Ausstellung „Silberglanz und Kumpeltod“ an. In der Region Chemnitz wurde Silber und weitere Schätze aus dem Erzgebirge abgebaut und in Leipzig gehandelt. Taucht diese Verbindung hier auch auf?

Das hört man in Chemnitz natürlich gern – es gibt klare Verbindungen zu Leipzig und Dresden. Weniger mag ich den Spruch: „In Chemnitz wird das Geld verdient, in Leipzig gehandelt und in Dresden verprasst.“ Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter: die Residenzstadt, die Handelsstadt, die Industriestadt. Und natürlich gab und gibt es in allen drei Städten Kultur, Arbeit und Glanz.

Vor welcher Herausforderung stehen die kulturellen Institutionen in Chemnitz trotz Kulturhauptstadt?

Wie überall in Deutschland: die Finanzierung. Öffentliche Mittel werden knapper, die Frage ist, wie wir Qualität und Vielfalt erhalten – gerade auch in der freien Szene. Es braucht neue Strukturen, etwa Kooperationen und geteilte Nutzung von Infrastruktur wie dem Garagen-Campus, der als Ort der freien Szene weiterentwickelt werden kann.

Was sollten Kunstschaffende und Museumsleute in diesem Jahr in Chemnitz auf keinen Fall verpassen?

Ein Blick ins Programm unter chemnitz2025.de lohnt sich immer. Neben der schon erwähnten Realismus-Ausstellung im Museum Gunzenhauser – ein absolutes Muss! – möchte ich besonders hinweisen auf die Ausstellung „Die neue Stadt – Chemnitz als Karl-Marx-Stadt“ im Schloßbergmuseum der Kunstsammlungen Chemnitz. Sie beleuchtet den DDR-Städtebau und stellt die Frage nach einer möglichen Ostmoderne – ein Thema, das oft übersehen wird. Und natürlich auf die Munch-Ausstellung im August in den Kunstsammlungen am Theatherplatz.

Einen Beitrag zum Projekt #3000 Garagen finden Sie hier .

Der Garagen-Campus, ehemaliger Straßenbahnhof auf der Zwickauer Straße
Die Chemnitzer Kulturbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky
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